Fehlerhaft?

Fehlerhaft? ist meine 17. Geschichte vom Meister und seinen Schülern. Sie handelt von der Verwandlung unserer Fehler in etwas gänzlich anderes.

- Anfang -

Mit dem Ende des Winters kam die Zeit der Frühlingswinde. Das Haus des Meisters ächzte, seine Balken knackten, doch es stemmte sich gegen den wirbelnden Luftstrom. In der Bibliothek, die besonders zu dieser Jahreszeit ein gern besuchter Ort war, hatte ein unvorsichtiger Schüler das Fenster über dem Arbeitstisch nicht sorgfältig genug verschlossen; der Riegel hatte nicht gänzlich eingehakt. Schon während der Schüler sich anschickte, den Raum zu verlassen, löste der am Fenster rüttelnde Luftstrom den Riegel. Er drückte den Fensterflügel auf und drang in den Raum ein, wo er über den Tisch hinwegfegte und zwei Stapel Papier in Windeseile in einzelne Blätter auflöste. Der Schüler reagierte schnell. Mit wenigen Sätzen war er beim Fenster und schloss es, diesmal mit Bedacht. Doch der Schaden war bereits angerichtet. Es sah aus, als hätte es geschneit.

Frustriert ließ sich der Schüler auf die Knie nieder und begann, die Papiere einzusammeln. Er war nicht im Geringsten überrascht, als der Meister um die Ecke kam und ihn freundlich begrüßte. Dass der Meister die Gabe besaß, stets am Ort des Geschehens aufzutauchen, war hinlänglich bekannt.

Der Schüler seufzte und sah zu ihm auf. »Was gäbe ich nur dafür, ein Gerät zu besitzen, mit dem ich die Zeit zurückdrehen könnte.« Er deutete auf die herumliegenden Papiere. »Nicht nur deswegen. Nein, mein ganzes Leben kommt mir vor wie eine einzige Kette aus Missgeschicken und Fehlentscheidungen.« Sein Gesicht hellte sich auf. »Aber deshalb bin ich ja jetzt bei Euch. Um einen Schlussstrich zu ziehen. Um das alles hinter mir zu lassen und komplett neu anzufangen.«

Der Meister runzelte die Stirn. »Du tust deinen Missgeschicken und Fehlentscheidungen Unrecht«, sagte er. »Würdest du ernsthaft auf sie verzichten wollen?«

Ratlos besah sich der Schüler das Papierchaos. »Das hier kann ich wieder in Ordnung bringen«, sagte er schließlich. »Aber Ihr wisst, weshalb ich hier bin. Ich habe Entscheidungen getroffen, die anderen Menschen Schaden zugefügt haben. Schaden, der nicht wiedergutgemacht werden kann. Wie könnte ich darüber glücklich sein?«

Der Meister ging in die Hocke und betrachtete seinen Schüler eindringlich. »Vor mir sehe ich einen Menschen, der weiß, dass die Folgen seines Handelns nicht nur ihn treffen – der versucht, verantwortungsbewusst und klug zu sein. Ohne dein Erlebnis wärst du das nicht.«

»Ich finde nicht, dass es das wert war«, antwortete der Schüler entschieden. »Das Erlebte mag mich als Menschen prägen. Doch selbst wenn es mich von Grund auf verändern sollte, selbst wenn ich dadurch vielleicht noch viel Gutes bewirke… Zukünftiges kann nicht mehr gutmachen, was Geschehenes bereits angerichtet hat.«

Seinen von Schuldgefühlen geplagten Schüler musternd, legte der Meister den Kopf schief. »Nun gut«, sagte er. »Wenn du also die Zeit zurückdrehen und jene Situation vermeiden könntest; was denkst du, würde kurz darauf geschehen? Du würdest exakt den Fehler begehen, den du nun so gerne rückgängig machen würdest! Ohne die Erfahrung seiner Auswirkungen könntest du ihn ja gar nicht vermeiden. Jetzt aber bist du gerüstet und er wird dir nie wieder passieren.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Bist du immer noch der Ansicht, dass dein Erlebnis es nicht wert war?«

»Besser wäre, ich hätte mitgedacht«, sagte der Schüler. »Ich hätte aus anderen Situationen schlussfolgern können.«

»Hast du aber nicht«, sagte der Meister pragmatisch. »Weil dir dieses wichtige Erlebnis als Fundament dafür fehlte. Dein Leben bietet dir die Möglichkeit zu lernen. Immer – ohne Ausnahme, ohne Kompromiss. Selbst dann, wenn es einmal zum Schaden anderer geschieht.«

Er begann, dem Schüler beim Aufsammeln der Papierblätter zu helfen. Kurze Zeit später waren die beiden Stapel auf dem Schreibtisch wiederhergestellt.

»Ich weiß ja, was Ihr meint«, sagte der Schüler. »Es kommt niemals darauf an, was war oder was ist – nur darauf, was man daraus macht… Trotzdem wünsche ich mir immer noch, dass Manches nicht geschehen wäre. Vielleicht ist das für Euch schwer zu verstehen.«

Der Meister schnaubte belustigt. »Im Gegenteil – ich verstehe dich voll und ganz. Denkst du, ich hätte jemals geplant, eine Schule zu errichten? Nein – und dennoch ist es so gekommen. Vertraue deinem Weg! Er ist der einzige, der für dich passt.«

Seinem Schüler auf die Schulter klopfend, verließ der Meister die Bibliothek. Der Schüler folgte ihm – nicht ohne zuvor noch einmal den Fensterriegel zu kontrollieren. Der Wind rüttelte vergeblich.

- ENDE -
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