Anmerkung: Ich habe Juliamazonas für meine Teilnahme am Wettbewerb FM4 Wortlaut 2019 verfasst. Das vorgegebene Thema war ›privat‹. Diese Kurzgeschichte handelt deshalb von einem Menschen, der keine Privatsphäre hat. Es kann sein, dass du Juliamazonas zweimal lesen musst, damit alles einen Sinn ergibt.
Draußen war es finster und still, Nacht eben. Drinnen war es wie immer Tag.
»Hey, Julia«, sagte ich. »Schon was vor heute?«
Julia drinnen schaute auf. »Ich würd wahnsinnig gern surfen gehen. Machst du mit?«
Ich überlegte. Klar, mitmachen würde ich definitiv – wäre ich draußen jemals an einem Strand gewesen. Woher sollte ich wissen, ob richtig war, was ich machte? Reichte es, dass ich mal eine Doku drüber gesehen hatte? »Ich weiß nicht«, sagte ich zögerlich und fühlte, wie sich Angst und Neugier in mir die Waage hielten. »Ich will mich nicht blamieren.«
»Du wirst es irgendwann riskieren müssen«, sagte Julia und zog eine Augenbraue hoch. »Du kannst dich nicht ewig drücken.«
Ewig? Blödsinn, sie fragte mich zum ersten Mal danach, mit ihr zu surfen.
Julia zog die zweite Augenbraue hoch und sah mich an, als wäre ich dämlich. »Du wolltest auch nicht Paragleiten«, erinnerte sie mich. »Und nicht Spaghetti Carbonara kochen und auch nicht den brasilianischen Urwald besuchen und mit den Eingeborenen leben.«
Ich wand mich. »Das ist alles nicht so leicht«, stellte ich fest, »weil ich nicht weiß, was es dafür braucht und sich das jetzt nicht mehr in Erfahrung bringen lässt.«
»Komm schon«, bat Julia. »Wellen und Strand. So schwer ist das doch nicht.«
Sie stand auf und putzte sich Sand vom Neoprenanzug, den Surfer für gewöhnlich trugen. Zumindest das war mir gelungen; er stand ihr außerordentlich gut. »Na bitte«, sagte sie sichtlich zufrieden und schnappte sich ein Surfbrett. »Und jetzt beweg deinen Hintern und komm mit!«
Ich sah ihr nach, wie sie sich mit dem Surfbrett in die Brandung warf und begann, auf den grünblauen Ozean hinaus zu paddeln.
Wir surften wie die Profis in der einen Doku, die ich darüber gesehen hatte. Salz und Wind trieben uns Tränen ins Gesicht, wir machten Saltos und sprangen über Wellenkämme.
Draußen war es hell geworden. Rot-oranges Schimmerlicht sickerte durch meine Augenlider, pulsierende Punkte malten Muster hinein. Ich beobachtete sie eine Weile, dann fiel meinen Augen auf, dass ich wach war und sie gingen auf.
Privatsphäre hieß für mich, sich überlegen zu können, was man mit wem teilt. Ich hatte keine. Eine Schwester in Weiß kam und ging, kam erneut, wie Wellen am Strand. Ich sah sie nicht wirklich, denn ich hatte gelernt, wegzusehen obwohl ich hinsah. Irgendetwas knisterte, in Plastik eingeschweißte Mullbinden vielleicht. Ich hörte weg und döste ein bisschen. Das hatte ich gelernt, als die Ärzte mich anfangs dauerbelagert hatten. Damals, als ich voll Panik war und voll Angst vor dem Alleinsein und dem Wahnsinn. Sie hatten mich Fragen gefragt, die man Dreijährigen stellt, mit eingebauten Fehlern und die Veränderungen meiner Hirnströme gemessen. Dann hatten sie mir mit Taschenlampen in die Augen geleuchtet und auf das Display geschaut, das irgendwo über mir piepte und lebenswichtige Sachen anzeigte.
Die Schwester sang ein leises Lied, als sie meinen linken Arm anhob und mit einem Lappen wusch. Ich verstand sie nicht, ich konnte kein Rumänisch. Trotzdem hörte ich hin. Es klang schön, denn es half mir, wegzufühlen – das Tuch auszublenden, das mir die Spucke vom Kinn wischte, den nassen Lappen, der mich meiner Würde beraubte und die Tatsache, dass die Hand, die ihn führte, nicht meine war. Sich Waschen ist Privatsache. Es war mir nicht einfach nur peinlich, Teenager-mit-rotem-Kopf-mäßig. Ich schämte mich grenzenlos.
Julia draußen kam wie immer nach der regulären Besuchszeit, sie hatte ausgehandelt, dass sie immer kommen durfte, wann sie wollte. Julia konnte sehr überzeugend sein.
Nun war sie wieder da, neben dem, was ich einmal als ›Ich‹ bezeichnet hatte. Ich sah sie nur verschwommen, doch ich hörte sie atmen und fühlte, dass sie eine Delle in die Matratze machte, dort, wo sie saß.
Julia war ein guter Mensch. Ich sage das, weil ich sonst keine Menschen kenne, die derart gut sind. Sie ließ keine Zweifel daran, dass alles besser werden würde, nicht aus Angst, sondern aus Überzeugung. Ihre Dissertation sei fast fertig, erklärte sie mir stolz. Irgendwann würden wir zum Amazonas reisen und die Lebensweisen der indigenen Völker kennenlernen, die kein Geld brauchten und die ersten großen Verlierer des Niedergangs der Menschheit waren, ohne dass sie etwas dafürkonnten. »Hast du gewusst…«, sagte sie, »…dass es Völker gibt, die noch nie in Kontakt mit der modernen Zivilisation waren? Sie schützen sich, indem sie sich isolieren und jede Kontaktmöglichkeit meiden. Unsere Verkühlungen sind lebensgefährlich für sie. Was Masern bei ihnen anrichten, kann sich unsereiner gar nicht vorstellen. Das heißt: Ein Kontaktversuch wäre für viele der sichere Tod.«
Ich verstand das gut. Anfangs hatte ich es auch oft mit Kontaktaufnahme versucht und alle meine Hoffnungen waren dabei gestorben.
Mir fiel auf, dass sie mich zunehmend stärker sedierten. Das half gegen das Kopfweh und wie mir positiv auffiel, auch gegen das Jucken im Bauch. Dafür schlief ich schlecht. Ich träumte, ich sei der letzte Überlebende meines Stammes und rundherum planierten Bulldozer den Wald.
»Ich bin für dich da«, sagte Julia drinnen, als ich aufwachte und weinte. Sie drückte mich. Das machte es besser. Zweifel an der Echtheit der Umarmung hatte ich keine mehr. Anfangs hatte ich geglaubt, mich zu belügen – unterbewusst eine Schutzwelt zu konstruieren, die mich von dem psychischen Schaden abschirmte, den die Chirurgen physisch in mein Gehirn gepfuscht hatten. Ich war dem nachgegangen, hatte zerlegt, beobachtet, erforscht.
›Julia ist Julia‹ war mein Ergebnis, ›und die Realität ist ein Zerrbild einer Wirklichkeit, die ich nicht verstehe.‹
Als ich erneut aufwache, ist es heller als sonst. »Kannst du mich hören?«, flüstert Julia draußen mit verweinten Augen. Ich richte mich auf, mit einer Bewegung, so leicht, dass mir schwindlig wird. Die Ärzte sind weg. Der Monitor ist schwarz und hat aufgehört, zu piepen. Ich rutsche an den Bettrand, setze mich neben meine Julia, nehme ihre Hand. »Ja«, flüster ich zurück, »ich hör dich.« Es schüttelt sie, sie weint, sie kämpft sich durch die Tränen. Dann drückt sie meine Hand und lächelt. Sie ist eine unglaublich starke Frau. Brasilien, wir kommen!
Nachbemerkung: Diese Geschichte beschreibt nicht, wie sich ein Mensch im Wachkoma fühlt – sondern wie ich mir vorstelle, dass er sich fühlen könnte. Ich habe keine Ahnung davon, wie es für mich wäre, in mir sich selbst gefangen zu sein, unfähig zur Kommunikation mit denen, die ich kenne und liebe. Es gibt viele Menschen, die eine schwerere Lebensaufgabe zu meistern haben als ich und Du. Ich denke, es ist unsere Verantwortung, etwas aus dem zu machen, was uns geschenkt ist.
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