Anmerkung: Nach einem ganzen Buch voll Geschichten über den Meister und seine Schüler könnte man meinen, dass ich davon schön langsam genug habe… Noch ist es nicht soweit – weil einfach jeden Tag neue Ideen auftauchen, die nur darauf warten, in Geschichten verpackt zu werden… Viel Spaß beim Lesen!
Kuchen gab es im Haus des Meisters – wenn überhaupt – nur selten, aber es war nicht so, dass dieser jemandem abging. Was täglich auf den Tisch kam, war reichhaltig, mit Liebe zubereitet und wurde immer mit Freude verzehrt. Doch gerade als einige Schüler sich gemeinsam ein schlichtes Fastenprogramm auferlegt hatten, hielt es der Meister für angebracht, mehr Nachspeisen auf den Speiseplan zu reklamieren. So genossen fast alle den noch warmen Obstkuchen, während einige unter ihnen nur zusahen und sich dabei etwas unwohl fühlten.
»Da will man seinen Entschluss doch glatt überdenken«, meinte ein Schüler und verzog das Gesicht. »Warum müsst Ihr uns das antun?«
Der Meister schmunzelte. »Ich tue euch damit doch nichts an, ich gebe euch, was ihr wollt! Ihr habt euch ja ohne mein Zutun dafür entschieden, auf Kuchen zu verzichten – nun habt ihr auch die Möglichkeit, es zu tun.«
»Ich weiß.« Der Schüler rümpfte die Nase. »Bitte sagt mir trotzdem, warum es mir plötzlich so schwer erscheint, heute keine Ausnahme zu machen. Es ist ja nichts weiter als ein Kuchen. Er macht nicht wirklich satt, und wenn es ihn nicht gibt, macht mir das normalerweise auch nichts. Es macht überhaupt keinen Sinn, dass er so verlockend ist.«
»Stimmt«, warf ein zweiter Schüler ein. »Es ist wirklich sonderbar. Es gibt Dinge, die mir überhaupt nicht fehlen, an die ich nicht denke, und nach denen ich überhaupt keinen Wunsch verspüre. Doch wenn sich unerwartet die Möglichkeit bietet, ist das auf einmal anders – da gibt es kaum etwas schwereres, als diesem Drang zu widerstehen.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist tatsächlich die Gelegenheit, die den Dieb macht.«
»Nein, nein, nein«, rief der Meister. »Das stimmt ganz und gar nicht! Etwas wirklich zu wollen bedeutet, entschieden zu sein.« Er wandte sich an den ersten Schüler. »Du willst zwar fasten, aber nicht so sehr, dass du nicht auch den Kuchen essen willst. Daher kommt deine Empfindung, etwas zu versäumen. Wenn du aber den Kuchen essen würdest, dann hättest du das Gefühl, deinen Entschluss zu fasten zu verraten. So oder so, deine Unzufriedenheit liegt in jedem Fall daran, dass deine Entscheidung eine halbe Sache ist – weil der Wille zwar etwas logisch erscheinendes festlegen, den Grund für eine ganze Entscheidung aber nur deine Liebe hergeben kann. Wenn du deinen Körper wirklich liebst und ihm Gutes tun willst, ist es leicht für dich, auf den Kuchen zu verzichten. Wenn du den Kuchen wirklich liebst, ist es leicht für dich, ein Stück zu genießen, ohne dass dich dein Gewissen plagt.«
»Ich bin ja klar und entschieden«, jammerte der Schüler. »Aber die Versuchung…«
»Ich weiß, was ihr meint!«, rief der zweite Schüler. »Es ist der Dieb, der die Gelegenheit macht, nicht umgekehrt!«
Der Meister lachte begeistert. »Genau so ist es!« Er erhob sich von seinem Sitzplatz. »Und jetzt entschuldigt mich bitte. Ich bin kein solcher ›Gelegenheitsdieb‹ mehr, aber ich habe eine diebische Freude daran, mir noch ein Stück Kuchen zu holen!«
Uns frei entscheiden zu können ist ein Privileg, das uns Menschen vorbehalten ist. Uns immer wieder entscheiden zu müssen die Herausforderung, die damit einhergeht.
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